Auf jedem Jakobsweg habe ich Neues gelernt – vom idealen Rucksackgewicht bis hin zur inneren Einstellung beim Pilgern. Meine 12 Tipps für einen erfüllten Jakobsweg.
Nimm dir genügend Zeit
Wie lange muss man den Alltag hinter sich lassen, bis eine wirkliche Erholung eintritt? Laut der Wissenschaft braucht man dafür etwa zwei Wochen – am besten fernab seiner gewohnten Umgebung. Beim Jakobsweg verhält es sich ähnlich. Das Ankommen, das Eingewöhnen in den Pilgeralltag, das Loslassen von Berufs- und Alltagssorgen und das Gefühl des Freiseins, all das braucht seine Zeit. Und je länger man sich in diesem «Flow» bewegt, desto mehr «Camino-Hormone» pulsieren durch den Körper: ein Gefühl von Glück und Geborgensein. Wer es einrichten kann, sollte mindestens zwei Wochen seinen Rucksack schultern.
Packe leicht
Das Glück auf dem Jakobsweg begegnet dem Pilger in vielen unterschiedlichen Gestalten. Und in einem leichten Rucksack. Denn das Gewicht des Rucksacks ist nebst den richtigen Schuhen die wichtigste Voraussetzung für einen körperlich angenehmen Jakobsweg. Jedes Kilo zu viel ist eine Mehrbelastung für Muskeln und Gelenke und führt zu schnellerer Ermüdung und Schmerzen. Die Daumenregel lautet: Das Gewicht des Rucksacks sollte höchstens zehn Prozent des Körpergewichts betragen. Überlege dir vor dem Packen, was du brauchst – und nimm davon nur die Hälfte mit. Der Jakobsweg lehrt: Man braucht weniger, als man denkt.
Vertraue dem Weg
Der Zauber des Jakobswegs liegt in der Freiheit von alltäglichen Sorgen. Das gilt auch für die praktische Reiseplanung. Denn die Infrastruktur auf den beliebten Routen ist top ausgebaut. Dennoch rasen viele Pilger über den Weg in der Angst, vor einer vollen Herberge oder einem geschlossenen Supermarkt zu stehen. Wer sich von diesen Sorgen frei macht, wird bald eine alte Pilgerweisheit erkennen: «Der Jakobsweg versorgt seine Pilger.» Dann findet sich in einem überfüllten Dorf doch noch ein Bett, dann schenkt einem ein Dorfbewohner eine gekühlte Flasche Wasser in der Hitze. Wer dem Weg vertraut, erfährt eine Freiheit, die ein wahres Geschenk ist.
Gehe langsam
Gehen ist gesund. Die berühmten 10 000 Schritte am Tag beugen Krankheiten vor und verlangsamen das Altern. Doch das Wandern, Flanieren und Schlendern ist noch mehr: Es ist die menschlichste aller Geschwindigkeiten. Zu Fuss hält die Seele Schritt – wenn man den richtigen Takt findet. Denn auch das Gehen kann zu schnell sein. Manche Pilger verfallen in einen Geschwindigkeitsrausch und sprinten ohne Pausen über die Strecke. Aber haben sie auch die romanische Kirche besucht? Die tanzenden Schmetterlinge gesehen oder mit den Dorfbewohnern gesprochen? Wer sein Tempo drosselt, für den wird das Pilgern zur Bereicherung.
Lass das Handy im Rucksack
Durch den Instagram-Feed scrollen und sich mit Reels berieseln lassen, mit Freunden chatten oder die Nachrichten checken: Ein Smartphone frisst viele Stunden unserer Zeit. Viele Apps sind so designet, dass wir von ihnen gefesselt sind – währenddessen ziehen die Schönheiten des analogen Lebens unbemerkt an uns vorbei. Handys sind wertvolle Helfer (und manche App erleichtert die Pilgerplanung), mehr aber auch nicht. Und was für den Alltag gilt, stimmt für den Jakobsweg um so mehr: Selten ist der Blick auf den Screen wirklich nötig. Je öfter das Handy im Rucksack bleibt, desto achtsamer wird das Pilgern.
Suche die Einsamkeit
Eine Faszination des Jakobswegs ist die Begegnung mit Menschen aus der ganzen Welt. Oft schliessen sich Pilger in kleinen Gruppen zusammen und machen sich gemeinsam auf den Weg nach Santiago. Die Geborgenheit der Pilgergemeinschaft trägt durch schwierige Momente und gibt Kraft. Die Kehrseite ist der Gruppendruck. In der Gemeinschaft müssen Kompromisse eingegangen werden, die eventuell den eigenen Bedürfnissen widersprechen. Viele Pilger machen sich auf den Weg, um Lebensfragen zu wälzen und sich wieder mit ihrer Innenwelt zu verbinden. Sich (von Zeit zu Zeit) in die Einsamkeit zu begeben, hilft dabei.
Schlafe in kirchlichen Herbergen
Trotz der vielen kommerziellen Herbergen, die in den letzten Jahren ihr Tore geöffnet haben, lebt der Jakobsweg vom Engagement Hunderter Freiwilliger aus der ganzen Welt. Alle Gemeindeherbergen und kirchlichen Unterkünfte werden von Menschen betrieben, die dafür unentgeltlich ihre Ferien herschenken. Insbesondere in kirchlichen, spendengeführten Herbergen lebt die mittelalterliche Tradition der Pilgerführsorge fort, die einst Klöster und Ritterorden übernahmen. Oft wird gemeinsam gekocht, gegessen und gesungen – ein Brauch, der Menschen aus allen Kulturkreisen und unabhängig von religiösen Ansichten verbindet.
Höre auf Dich
Warum der Jakobsweg einen so anhaltenden Boom erlebt, hat viele Gründe. Einer ist das Gefühl der Fremdbestimmung im Alltag. Ein Camino dagegen schenkt dem Pilger eine neue Freiheit. Und dennoch dauert es mitunter lang, bis man sich auch beim Pilgern von vermeintlichen Zwängen befreit: das Gefühl, man müsse eine gewisse Tagesdistanz zurücklegen, die Angst vor vollen Unterkünften oder die Notwendigkeit, den gesamten Weg vorauszuplanen. Auf dem Jakobsweg gibt es kein «Müssen». Das Herz weiss meist sehr gut, was man gerade braucht: die eine Pause unter dem Baum, die Mini-Tagestappe bis zum nächsten Dorf oder die Nacht in einem Einzelzimmer. Höre darauf.
Führe ein Tagebuch
Wer von zu Hause aufbricht, seine Komfortzone verlässt und sich in die Fremde wagt, der erlebt kleine und grössere Abenteuer, unerwartete Glücksmomente, humorvolle Situationen und überraschende Gesten der Hilfsbereitschaft. Dem steigen neue Gedanken und Gefühle auf. Ein Jakobsweg kann sowohl für Körper, Seele und Geist eine Verwandlung bedeuten. Wer sich jeden Tag die Zeit nimmt, ein Tagebuch zu führen, der bringt Klarheit in den Strudel der Erlebnisse, Gedanken und Gefühle. Und der kann auch Jahre später, wenn die Details längst verblasst sind, den Jakobsweg ein weiteres Mal durchleben und in Erinnerungen schwelgen.
Tritt aus der Pilger-Bubble
Auf dem Jakobsweg bewegt man sich in einer Pilger-Bubble. Pilgerherbergen, Pilgerbars, Pilgerfreunde, Pilgerdörfer: Die eigene Wahrnehmung reduziert sich auf den Camino. Parallel dazu findet das wahre Leben statt. Und das ist farbenfroh, spannend und teilweise wundersam. Es gibt so viel zu entdecken in den Ländern, durch welche die Jakobswege führen: Einheimischen-Bars, lokalen Spezialitäten, Museen, Schlösser, Kirchen und verrückte Traditionen. Lasse dich auf Land und Leute ein und du wirst nicht nur mit den Wundern des Jakobswegs, sondern auch mit einem bunten Strauss an unerwarteten Eindrücken zurückkehren.
Hoffe nicht auf Santiago
Santiago de Compostela wartet mit der schönsten Altstadt der spanischen Jakobswege auf und ist gleichzeitig eine Enttäuschung. Denn das Pilgerziel ist eine Touristendestination mit den typischen Erscheinungen: Menschenmassen, Souvenirshops, Lärm und überteuerte Preise. Nach Wochen auf dem Land und mitten in einer inspirierenden Pilgergemeinschaft katapultiert der Trubel in der galicischen Hauptstadt die meisten wieder in eine Realität jenseits des Pilgerns. Spirituelle Momente oder erfüllende Pilger-Erlebnisse findet man hier selten. Beim Jakobsweg gilt die alte Weisheit mehr denn je: Der Weg ist das Ziel.
Gehe nach Finisterre
Historisch war das Ende des Jakobswegs die Kathedrale von Santiago mit den (angeblichen) Gebeinen des Jakobus des Älteren. Diese traditionelle Bedeutung hat der Jakobsweg längst verloren. Und so ist für die meisten Pilger ein Besuch der Pilgermesse selten ein erfüllender Abschluss ihres Caminos. Ein intensiveres und auch spirituelleres Erlebnis bietet das Kap von Finisterre, wo sich ein Heiligtum der Druiden befunden haben soll. An diesem heiligen Ort den Sonnenuntergang erleben, den würzigen Atlantik-Duft in der Nase und das Brausen der Wellen in den Ohren, ist ein erhebendes Erlebnis und ein würdiger Ausklang einer Jakobspilgerschaft – und ein neuer Aufbruch.
3 Comments
Habe dich gerade per Zufall hier in San Juan de Ortega kennen gelernt. Als dein Kunde (Tagebuch) und Befolger deiner Packliste (max. 10 % deines Körpergewichts). Danke für deine wertvollen Tipps auf deiner Homepage und für das gute Gespräch heute hier auf dem Camino Frances.
Buen Camino
Erich
Ja, lieber Erich, das war ein wunderbarer Zufall! Wie gross sind die Chancen? Es war ein sehr schönes Gespräch. Wünsche Dir viele wundersame Erfahrungen auf dem Jakobsweg.
Danke – super Infos, top geschrieben! Ich freue mich riesig auf Juni, dann werde ich das erste Mal unterwegs sein werde,