Seit 1000 Jahren pilgern Menschen nach Santiago de Compostela. Wie konnte die Stadt am Rande Europas zu einem der wichtigsten Pilgerziele des Christentums werden?
Da muss der Eremit Pelayo recht gestaunt haben, als ihm am Anfang des 9. Jahrhunderts eine Lichterscheinung zu einem Grabmal führte. Waren es Sterne oder gar ein Engel? Unsicher, was es mit dem göttlichen Zeichen auf sich hatte, rief man Bischof Theodemir aus dem nahen Iria Flavia herbei. Nach dreitägigem Fasten und einer Vision fand der Gottesmann die Überreste des heiligen Jakobus – so oder ähnlich wird seit dem 11. Jahrhundert die Geschichte der Grabauffindung erzählt.
Himmlische Erscheinungen, Fastenzeit, Visionen: Die Erzählung lehnt sich auffällig an andere europäischen Reliquien-Entdeckungen der Zeit an. Es handelt sich hierbei also eher um geschicktes «Storytelling» als um historische Wahrheit.
Was aber führte im 9. Jahrhundert dazu, die Existenz eines Apostelgrabes am äussersten Rand Europas zu verkünden? Zumal Jakobus nach der Apostelgeschichte im Jahr 43 nach Christus in Jerusalem enthauptet wurde (siehe dazu auch meinen Biografie zu Jakobus).
Der Ursprung des Jakobswegs hatte politische Gründe
Die Gründe für die mirakulöse Entdeckung der Gebeine eines der vertrautesten Jünger Jesu liegt in der politischen und religiösen Situation auf der iberischen Halbinsel im ausgehenden ersten Jahrtausend.
Im Jahr 711 wagten die muslimischen Mauren den Sprung von Nordafrika über die Meerenge von Gibraltar und nahmen schnell grosse Teile des heutigen Spaniens ein. Nur die Königreiche im Norden konnten dem Ansturm widerstehen und blieben unabhängig. Eines davon war das Königreich Asturien, welche sich mit der Eroberung Galiciens anschickte, eine regionale Supermacht zu werden. Und was konnte diesen Anspruch besser unterstreichen als die Gebeine eines Apostels? Zumal im christlichen Abendland nur Rom mit dem Petrus-Grabmal ein ähnliches Pfund in der Hand hatte.
Zudem hatten die Christen der Halbinsel mit der Übernahme Toledos durch die Mauren ihr wichtigstes religiöses und geistiges Zentrum verloren. Ein Ersatz musste her – auch um die Moral der christlichen Armeen, die sich in den kommenden Jahrhunderten anschickten, die Mauren zu vertreiben, zu stärken.
Als noch einige innerchristliche Querelen dazukamen (die verbliebenen Christen in Toledo hingen eine Zeit lang einer ketzerischen Lehre an) sah man in Asturien die Zeit reif, die eigene Macht zu stärken: Santiago als Bestattungsort von Jakobus dem Älteren war beschlossene Sache.
Kurz nach der Auffindung um etwa 824 nach Christus (die Daten variieren) wurde eine erste Wallfahrtskirche gebaut, die schon im Jahr 899 wegen zu grossem Andrang erweitert werden musste.
Nur mit viel Werbung wurde Santiago zum Pilgerziel
Dennoch blieb Santiago zunächst hauptsächlich ein regionales Pilgerziel. Das änderte sich erst im 11. und 12. Jahrhundert, als man in Santiago die Werbetrommel fürs neue Pilgerziel rührte. Geschichten über Heilungen und sonstigen Wundern am Grab des Apostels machten die Runde. Dazu trug auch die Schriftensammlung Liber Sancti Jacobi (auch Codex Calixtinus genannt) bei. In dem fünfbändigen Buch wird nicht nur die Überführungslegende des Jakobus Leichnams aus Palästina, sondern vor allem die ihm zugeschriebenen Wunder berichtet. Zudem erhält die Liber Sancti Jacobi den ersten Pilgerführer zum Jakobsweg. Auch wenn die Beschreibungen von guten und schlechten Gasthäusern und Herbergen, Flüssen und gefährlichen Wegabschnitten, heute einen interessanten Eindruck des Pilgerwesens der Zeit vermitteln, war dieser Abschnitt kaum als praktischer Reiseführer zu gebrauchen.
Vielmehr ging es den Verfassern um Propaganda, um die Distanz zum weit entfernten Santiago de Compostela kürzer erscheinen zu lassen. Dazu gehört auch die Aussage, für den Camino Frances brauche man nur 13 Tagesetappen – bei etwa 800 Kilometern entspräche das einer Tagesleistung von etwa 60 Kilometern. Auch mit einem Pferd, auf dem vor allem Adelige und reiche Pilger unterwegs waren, ein unmögliches Unterfangen.
Mittlerweile strömten die Pilger aus grossen Teilen Europas nach Santiago. Und dennoch fehlte den Diozöse von Santiago de Compostela noch der letzte «Ritterschlag»: Santiago war nur ein Bischofssitz und kein Erzbistum. Was war zu tun? Der Compostelianische Bischof Diego Gelmírezsetzte zur Lobbyarbeit par excellence an. Mit geschickten Argumenten (die Grabstätte eines Apostels bedürfe die Privilegien eines Erzbistums) und vor allem mit einigen Kisten voller Gold (Santiago war dank der Pilger mittlerweile sehr reich) überzeugten die Galicier Papst Calixt II., der Kirche im Jahr 1120 den Status eines Erzbistums zu verleihen.
Ab dem 12. Jahrhundert entwickelt sich Santiago zum europäischen Phänomen
Nun entwickelte sich die Santiago-Wallfahrt mit teils mehreren Hunderttausend Pilgern im Jahr zu einem gesamteuropäischen Phänomen – mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Regionen entlang der Hauptrouten: Klöstern, und Hospize wurden zur Aufnahme von Pilgern gebaut, Kirchen für die Menschenmassen erweitert und Brücken errichtet (einer der bekanntesten Beispiele ist die Brücke in Puente la Reina). Viele dieser Bauwerke sind heute noch intakt.
Ab dem 16. Jahrhundert war der Höhepunkt des Pilgerwesens erreicht. Die Reformation und der Humanismus trugen zu einer kritischeren Beurteilung der Wallfahrten und des Reliquienkultes bei (Reformator Luther behauptete gar, in Santiago lägen nur die Knochen eines Pferdes.)
Schliesslich kam die Pilgerwallfahrt nach Santiago de Compostela bis ins 19. Jahrhundert fast vollständig zu erliegen. Und erst in den 1980er Jahren mit den Buchveröffentlichungen prominenter Persönlichkeiten, wie Shirley McLaine oder Paulo Coelho, gewann der Jakobsweg wieder an Popularität und ist heute zu einem neuen weltweiten Phänomen geworden.
Bibliographie
Die folgenden Bücher geben einen vertieften Einblick in die Hintergründe des Jakobsweges.
Herbers, Klaus: Jakobsweg. Geschichte und Kultur einer Pilgerfahrt, C.H. Beck, München 2006.
Herbers, Klaus: Der Jakobsweg. Ein Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert, Reclam, Stuttgart 2008.
Marten, Bettina: Der spanische Jakobsweg. Ein Kunst- und Kulturführer, Reclam, Stuttgart 2011.
Plötz, Robert (Hrsg): Europäische Wege der Santiago-Pilgerfahrt, Jakobsweg-Studien Band 2, Gunter Narr, Tübingen 1993.
von Saucken, Paolo Caucci (Hrsg): Pilgerwege. Santiago de Compostela, Pattloch, Augsburg 2005
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