Galicien ist der Sehnsuchtsort eines jeden Jakobspilgers. Doch die Region im Nordwesten Spaniens hat noch viel mehr zu bieten: mystische Landschaften, eine reiche Geschichte und Gaumenfreuden, die nicht von dieser Welt sind. Eine Entdeckungsreise zur galicischen Küche.
Hinweis: Bei diesem Text handelt es sich um meine Reportage für travelmagazin.ch.
Der Uhrzeiger geht auf Mitternacht zu und wir tafeln immer noch. Dabei sollte es doch nur «ein kleines Degustationsmenü» werden. Und bis das Dessert und der Cortado seinen Weg in unsere Mägen gefunden haben, ist es weit jenseits der Schlafenszeit. In den letzten drei Stunden genossen wir einen Cocktail mit den lokalen Peperoni «Pimientos de Padrón», geräucherte Makrele, Jakobsmuscheln mit fermentiertem Fenchel, Zwiebeln in Schafsmilch sowie Seegras und viele weitere Gänge, bei deren Beschreibungen durch Sternekoch Pepe Vieira uns der Kopf rauchte und die Geschmacksknospen jubilierten. Gab es da nicht auch noch den «Apfel, der ein Camembert sein wollte»? Dass man eine Frucht mit Penicillin-Sporen impfen könnte, auf die Idee kommt wohl auch nur ein Koch mit zwei Michelin-Sternen: Pepe Vieira gilt als einer der besten und kreativsten Köche der galicischen Küche.
«A última cociña do mundo», die am weitesten entfernte Küche der Welt, nennt der 50-Jährige seine Kochkunst – eine Anspielung auf das Kap Finisterre, das einst als Ende der Welt galt und hier um die Ecke liegt. Doch nicht nur das Ende der Welt liegt hier in Galicien, sondern auch die Hoffnung: Am Grab des Jakobus in der Kathedrale von Santiago de Compostela endet der Jakobsweg – ein Ort der Wunderversprechen und des Sündenvergebens, einst und heute.
Galicien liegt abseits der grossen Touristenströme
Und würde sich dieser 1000-jährige Pilgerweg hier nicht bis zum äussersten Westen des europäischen Festlandes schlängeln, stünde die Region kaum auf der Bucketlist der Reise-Community: Barcelona, Andalusien und Mallorca klingen da viel sexyer. Mir erging es nicht anders. Es hätte mich nicht hierher verschlagen, wäre ich nicht als Pilger schon mehrmals in Galicien unterwegs gewesen – mit dem typischen eingeschränkten Blick des modernen Wallfahrers, der sich auf Nützliches konzentriert: Herbergen, Höhenprofile und das wechselwendige Wetter.
Und der sich meist grauenvoll ernährt – mit ausgetrockneten Bocadillos (belegte Brote), «Menus del Peregrino», Pilgermenüs, und geschmacksarmen Dreigängern mit dem immer Gleichen: Salat, Schuhleder-Steak und Caramel-Pudding aus der Dose. Meine Meinung zur lokalen Kochkunst war miserabel – bis zu meinem jetzigen Besuch in Galicien jenseits des Jakobswegs, der zur Bewusstseinserweiterung in Sachen galicischen Genusses wurde.
Galicische Küche – die besten Meeresfrüchte der Welt
Von Pepe Vieiras Restaurant sehe ich hinunter auf die Ría de Pontevedra, einen der vier Meeresarme, die im Süden der Region weit ins Land greifen und die Grundlage sind für Galiciens Reichtum – ökonomisch und geschmacklich. Denn hier am Übergang von Land und Meer, wo sich das Salzwasser mit dem Süsswasser vereint, befindet sich das All-you-can-eat-Buffet für die «mariscos», die Meeresfrüchte: Schwertmuscheln, Krebse verschiedener Art, Seespinnen, Herz-, Venus- und Entenmuscheln, Hummer und kleine schmackhafte Garnelen. Und für Miesmuscheln und Austern, die hier an Seilen an grossen Plattformen im Wasser hängen und sich vollfuttern.
Galicien hat sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zum weltweit grössten Produzenten für Miesmuscheln gemausert. Doch nebst der industriellen Meerestier-Zucht ist die Ernte der Muscheln, Seeigel und Co. noch Handarbeit. Und während die Männer aufs Meer fahren, in der Brandung mit brachialer Gewalt die Entenmuscheln vom Fels kratzen oder als Taucher den Meeresboden abgrasen, suchen die Frauen traditionell bei Ebbe im Schlick nach Muscheln.
Das Ernten der Meeresfrüchte ist noch Handarbeit
So wie Maria Dolores (59), die ich am Strand des Fischerdörfchens Moaña am Ría de Vigo treffe. Seit Kindheitstagen sammelt die Endfünfzigerin Venusmuscheln – laut ihrer Aussage einer der besten Berufe der Welt. «Schau dich um», sagt sie, während sie die Arme öffnet, als wolle sie ihre Welt umarmen, «das ist mein Büro. Ist das nicht ein Traum?» Recht hat sie. An diesem Tag zeigt sich Galicien von seiner schönsten Seite. Die Sonne lacht (was hier unter dem Einfluss des Atlantiks selbst im Sommer nicht selbstverständlich ist), die Hügel leuchten in sattem Grün des Frühlings und in der Luft schwebt der aromatische Duft des Meeres und der Eukalyptusbäume, das «Chanel N° 5 Galiciens».
An diesem Tag sind etwa 30 Frauen (und neuerdings auch zwei Männer) an den Strand gekommen, um ihren «Garten» zu pflegen. «Heute sammeln wir die kleinen Muscheln, die zu weit oben am Strand liegen, und verteilen sie im tieferen Wasser. So werden die Muscheln kräftiger und fetter.» Vertikutieren auf Galicisch.
Wo man denn nun die besten dieser Meeresfrüchte essen könne, möchte ich wissen. Maria Dolores schickt mich zum Restaurant Cabo Home im Dorf Donón, einem typisch galicischen Mix aus Bar und Restaurant: unscheinbar und mit dem Charme einer Wartehalle – aber mit Gerichten auf dem Teller, die so übernatürlich sind wie dieses Land, wo die Nebel durch flechtenbehangene Wälder ziehen und die Menschen die Existenz von Trollen und wundersamen Frauen nicht ganz ausschliessen. Wir schlemmen Rochen, Venus- und Entenmuscheln, Garnelen und natürlich Polbo á feira, Krake auf galicische Art gekocht und mit Olivenöl und Paprikapulver gewürzt. Das Nationalgericht.
Zur galicischen Küche gehört eine grosse Weinvielfalt
Dazu passt ein Albariño, die regionale Weissweinsorte, die gut mit dem feucht-milden Klima zurechtkommt und zu Fisch passt. Weinbau in Galicien: auch so eine Entdeckung. Allerdings kann ich mich mit dem Albariño nicht so recht anfreunden – im Gegensatz zu den roten Tropfen der Ribeira Sacra, der wärmeren Region im Landesinnern, in der sich die Flüsse Miño und Sil tief in den Basalt eingeschnitten haben. Wie einst von den Mönchen, die hier in der Abgeschiedenheit lebten, wird der Wein auch heute noch auf Terrassen angebaut, die an Reisanbau im fernen Vietnam erinnern. Und wie anno dazumal wird der Wein teilweise auf der Parzelle gemischt, so wie es der Önologe Iván Olmedo (34) aus dem Weingut Finca Míllara macht. Dabei werden unterschiedliche Weinsorten gemeinsam gekeltert. Das Ergebnis ist ein Rotwein voller Charakter, der perfekt zum aromatischen Pulpo passt.
Und natürlich zieht sich auch im «Cabo Home» das «schnelle Zmittag» über zwei Stunden hin. Mittlerweile ist es in der spanischen Mittagszeit schon vier Uhr geworden. Und bis zum nächsten Essen sind es nur noch fünf Stunden – vielleicht sollte ich mir auf einem der vielen Jakobswege, die wie Flüsse nach Santiago fliessen, ein paar Kalorien abpilgern.
Das sind eine der besten Restaurants in Santiago de Compostela.