Der Jakobsweg im Winter ist herrlich leer. Dann ist das Pilger so authentisch wie selten.
Seit sechs Stunden peitscht mir der Sturm Regen und Hagelkörner ins Gesicht. «Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung», heissts. Blödsinn! Ja, es gibt Mistwetter. Und nein: Selbst meine nagelneue Regenjacke macht es nicht besser. Und dennoch will ich an keinem anderen Ort sein, als just hier auf dem Jakobsweg in den Bergen zwischen den Ortschaften Rabanal del Camino und Foncebadón. In diesem Hundswetter. In der Kälte. Mitten im Dezember.
Ich war schon oft hier – allerdings nicht in den letzten zehn Jahren. Nun habe ich mir Zeit freigeschaufelt, von der Arbeit, von der Familie, und nehme die letzten 260 Kilometer von Astorga bis nach Santiago de Compostela unter die Füsse.
Es fühlt sich gut an, zurück zu sein. Warum? Weil der jahrhundertalte Jakobsweg für mich ein Kraftort ist, einen besonderen Zauber versprüht. Insbesondere im Winter, wenn nur eine Handvoll Pilger unterwegs sind. Dann kann man einsam durch die Lande wandern, Ruhe geniessen und sich mit Stille auftanken.
Der Jakobsweg im Winter ist herrlich leer
Denn in den Sommermonaten ist der Jakobsweg mittlerweile zu einem Massen-Lifestyle-Event verkommen. In Spitzenjahren pilgern 200 000 Menschen auf der klassischen Route, dem Camino Frances. Darunter Wanderer, die günstige Ferien suchen, Sinnsucher, die klischeehaften «Sich-Selbst-Finder» bis hin zu katholischen Hardcore-Pilgern, die mannshohe Kreuze zum Grab des Heiligen Jakobus schleppen.
Denn nach katholischem Glauben wurde Jakobus der Ältere, einer der 12 Jünger Jesu, in Santiago de Compostela beerdigt (sieh auch Box). Wer mindestens die letzten 100 Kilometer zum Grab läuft, wird von allen Sünden befreit. Kein schlechter Deal für Muskelkater und ein paar Blasen.
Peregrino para siempre – Einmal Pilger, immer Pilger.
Ich aber bin gekommen, weil ich hier herrlich abschalten kann. Nur mit einem Rucksack bestückt, laufen, laufen, laufen, essen, schlafen, und wieder laufen. Das ist Freiheit. Und manchmal eine Qual. Wenn man morgens in seine nassen Kleider steigen muss, wenn die Fusssohle bei jedem Tritt brennt oder wenn man nach 30 Kilometern vor einer geschlossenen Herberge steht (und die nächste Schlafmöglichkeit eine weitere Stunde entfernt ist), dann muss man seine Motivation ziemlich pushen.
Aber alles hat seinen Sinn (Ja, auf dem Jakobsweg wird jeder zum Hobby-Philosophen, das bleibt nicht aus). In just jener Herberge treffe ich nämlich eine spassige Truppe, mit denen ich mich in den nächsten Tagen anfreunde.
Da sind Federico, der durchtrainierte Italiener, der so schnell läuft, dass ich am Etappenziel immer erst zwei Stunden später eintrudele. Und Dani, der spanische Töff-Rennfahrer, der mit Jeans über den Jakobsweg wandert, wo andere sich in Hightech-Kleidung hüllen. Und Francesco, der Bohrlochingenieur, der mit einer zwiebel-grossen Schwellung am Fuss über die Strecke humpelt.
Am Morgen laufen wir meist gemeinsam los, doch schon bald verfällt jeder in sein eigenes Tempo und seine eigenen Gedanken. Abends treffen wir uns in der Herberge wieder und gehen dann Tapas tafeln und Rotwein trinken. «¡Más vino!» – mehr Wein. Irgendwie muss man die Schmerzen betäuben.
In 9 Tagen von Astorga nach Santiago
Neun Tage bin ich von Astorga nach Santiago unterwegs. Neun Tage durch eine Landschaft, die mich an den Schweizer Jura erinnert: sanfte Hügel, Weiden, dunkle Wälder und kleine Dörfchen. Das ist herrlich unaufgeregt und entschleunigend.
Emotional wird es freilich auch ab und an. Weihnachtsabend ist so ein Tag. Ich wandere die Extrakilometer zu einem Dörfchen, in dem nur wenige Pilger bleiben. Zwar sind mit mir nur etwa 15 Pilger unterwegs, aber am Weihnachtsabend will ich maximale Ruhe. Nur Francesco ist noch da. Wir teilen uns eine ganze Herberge. Welch ein Weihnachts-Luxus! Das Dumme nur: Die einzige Bar im Dorf hat geschlossen. Also kramen wir unser weniges Hab und Gut zusammen: Francesco Salami und Brot, ich eine Dose Sardinen und Mini-Lebkuchen. Ein intensiver Abend. Es ist die Einfachheit, die verzaubert.
Spätestens in Santiago aber lassen wir die Bescheidenheit fahren und hauen auf den Putz. Es ist Silvester und jeder Pilger, der es irgendwie schafft, ist heute in der Stadt: Federico, Dani, Francesco, Moshi (oder so ähnlich) aus Japan, John der Koreaner, der in vier Tagen zuhause den Militärdienst antreten muss und Julia aus Kanada, die mit ihren Zöpfen wir Greta Thunberg aussieht. Und weil man in Spanien zu geniessen weiss, geben wir uns der Völlerei hin – eine der sieben Todsünden. Das heisst: Meine weisse Weste hat keine 48 Stunden gehalten. Ich muss mich also wieder mal zum Heiligen Jakob auf den Weg machen. Peregrino per siempre – Einmal Pilger, immer Pilger.