Meine Reportage für die Coop Zeitung über meine Pilgerwanderung auf der Via Podiensis im Jahr 2021 von Figeac bis nach Saint-Jean-Pied-de-Port.
1300 Kilometer und ein Ziel: Am 24. Juli zu Fuss in die Pilgerstadt Santiago de Compostela einzuziehen. Am Tag, an dem ein riesiges Feuerwerk das Fest des heiligen Jakobus einläutet, das am 25. Juli stattfindet. Normalerweise verwandelt sich Santiago dann in eine einzige Party. Wie es mit Corona sein wird, bleibt abzuwarten – ein besonderer Tag ist es allemal, denn 2021 feiert Santiago ein heiliges Jahr. Dann winkt dem gläubigen Katholiken ein vollkommener Ablass seiner Sünden – eine Tradition, die seit 600 Jahren besonders viele Gläubige anzieht.
Im letzten Jubeljahr 2010 waren es knapp 300 000 Fusspilger. Dieses Jahr ist es freilich anders: Der Jakobsweg ist fast menschenleer. Derzeit starten in Saint-Jean-Pied-de-Port (F) vor den Pyrenäen (Startpunkt des bekannten Camino Francés nach Spanien) gerade mal 60 Pilger pro Tag. Das sind nur etwa 20 Prozent der üblichen Zahl. Während das für die Herbergen, Restaurants und Läden entlang des Wegs verheerend ist, kann es für denjenigen, der trotz allem seinen Rucksack schultert, eine Chance sein: Pilgern ist 2021 so authentisch wie schon lange nicht mehr.
Via Podiensis – Laufen macht den Kopf frei
Ich bin weder katholisch, noch glaube ich, dass ein Gott Sünden mit gelaufenen Kilometern aufrechnet. Dennoch ist das nicht mein erster Marsch auf dem Ja- kobsweg. Zum ersten Mal war ich dort 2002 auf dem Bike, dann 2004 zu Fuss unterwegs. Seitdem wanderte ich in der Schweiz, Italien, Frankreich und Spanien – insgesamt habe ich inzwischen über 10 000 Kilometer auf verschiedenen Strecken des Fernwanderwegs zurückgelegt. In Spanien würde man mich einen Camino Adicto nennen, einen Jakobswegsüchtigen. Was ist also die Droge, die mich in schnarchverseuchten Schlafsälen nächtigen, Blasen ertragen und manchmal schier verzweifeln lässt?
Es ist ein Gefühl von Freiheit. Es mag paradox klingen: Der immer gleiche Tagesablauf – aufstehen, gehen, picknicken, gehen, ankommen, Wäsche waschen, essen, schlafen – hat etwas zutiefst Befreiendes. In diesen knapp acht Wochen plagen mich keine Deadlines, keine Zoom-Calls, keine komplexen Probleme, die gelöst werden wollen. Der Weg, die Tage, die Infrastruktur sind vorgegeben. Das lässt Raum, aus dem Hamsterrad auszubrechen – allerdings muss ich mich zunächst dazu zwingen. Während meiner ersten Tage in den Ausläufern des Zentralmassivs lege ich ein Tempo vor, bei dem ich selbst beim Laufen in einen Tunnelblick verfalle, so sehr bin ich in dem gewohnten Tempo des Alltagslebens gefangen. Um aus dem Getriebensein auszubrechen, verwende ich einen Trick: Ich skizziere die Landschaft und Details am Wegesrand.
Dann sitze ich auf dem Weg und sauge die Schönheit der Landschaft auf: die kalkigen Hochebenen, die mit ihren Trockenmauern an England erinnern, die tiefen Täler, die weiten Wein- und Obstfelder. Die mittelalterlichen Dörfchen, die aus einem Filmset von «Herr der Ringe» stammen könnten. Die Unesco-geehrten Klöster und Kathedralen.
Via Podiensis – Auf historischen Spuren wandeln
Die Via Podiensis, die von Le-Puy-en- Velay in der Auvergne bis zu den Pyrenäen führt und von der ich die letzten 500 Kilometer unter die Füsse genommen habe, ist einer der vier historischen Jakobswege in Frankreich. Er war im Mittelalter die wichtigste Verbindungsroute der Pilger aus Europa nach Spanien. In der Blütezeit der Wallfahrten zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert marschierten jährlich mehrere zehntausend Pilger nach Santiago. Damals boten vor allem Kirchen und Klöster den Pilgern Unterschlupf. Viele kleinere Herbergen haben die Wirren der Zeit nicht überlebt. Mein persönliches Highlight ist der Kreuzgang der ehemaligen Abtei von Moissac mit seinen 88 geschmückten Kapitellen aus der Zeit der Romanik.
Die Fresken und Bilder dort sind auch ein moralischer Fingerzeig. Am Portal der Kirche findet sich eine grässliche Gestalt, welche die Todsünde der Völlerei personifiziert. Die Message: Wer sich zu sehr den Genüssen des Lebens hingibt, landet in der Hölle! Eine Warnung, auf die ich pfeife. Denn der Jakobsweg durch Frankreich ist auch eine Freude für die Geschmacksknospen.
Eine Pilgerwanderung auf dem GR65 ist auch ein kulinarischer Genuss
Oft befinden sich die «Gîtes» genannten Unterkünfte auf Bauernhöfen, die gleich- zeitig ein Abendessen anbieten. Niedergegartes Schweinefleisch, Entenbrust oder Gazpacho – darunter geht es kaum. Manchmal zollen die genussverwöhnten Franzosen den Herbergseltern lautstark mit Applaus ihren Tribut für ein besonders gelungenes Diner. Und wo findet man sonst im Getränkeautomaten Wein und Büchsen mit Foie gras?
Selbst ein «schnelles» Abendessen wächst sich zu einem Gelage aus wie im Städtchen Eauze in der Gascogne. Im Loft Café schlemme ich zwei Stunden lang an Gans, Ente und Käsevariationen. Zum Abschluss rollt Gastgeber Jean- Philippe einen Karren mit 30 Sorten Armagnac heran. «Wähle drei aus», sagt er, «lass dich von deinem Gefühl leiten.» Also wähle ich drei Tropfen nach dem Look der Flaschen aus. Mit zweien ist Jean-Philippe zufrieden, der letzte passe nicht dazu. Dann kredenzt er mir einen 25 Jahre alten Tropfen, der wie flüssiger Bernstein im Glas leuchtet. «Der ist ein Wunder», schwärmt er. Und wirklich, mein Gaumen jubiliert. Savoir-vivre, wie es nur die Franzosen können. Mein Tipp: Wer erste Jakobsweg-Luft schnuppern will, sollte seine ersten Erfahrungen auf dieser Etappe machen.
Es mag paradox klingen: Der immer gleiche Tagesablauf – aufstehen, gehen, picknicken, gehen, ankommen, Wäsche waschen, essen, schlafen – hat etwas zutiefst Befreiendes.
Nebst dem Genuss, dem Naturerleben und der Historie sind es für mich vor allem auch die Begegnungen mit Menschen aus der ganzen Welt, die den Jakobsweg zu etwas Besonderem machen. Im Dörfchen Labastide-Marnhac beispielsweise übernachte ich zusammen mit einem französischen Rentner-Trio. Nach dem Abendessen sitzen wir auf einer kleinen Veranda, und Didier holt seine Accordina heraus, ein Mini-Akkordeon, das mit dem Mund geblasen wird, und stimmt wehmütige Lieder an. Wir träumen weinselig in den Sonnenuntergang und das Leben ist einfach gut. Alter, Stand und Herkunft spielen keine Rolle mehr. Wir sind alle Pilger.
Und manchmal hat man das Glück, dabei zu sein, wenn sich grosse persönliche Geschichten ereignen. Im Weiler Harambeltz im französischen Baskenland, der nur aus drei Häusern und einem Kirchlein besteht, übernachte ich bei Maria Xemard. Die 27-Jährige war ein ganzes Jahr auf dem Jakobsweg unterwegs und wurde in diesem Haus liebevoll aufgenommen, was sie tief beeindruckt hat. Als sie nach ihrem Weg selbst eine Pilgerherberge eröffnen wollte, stand just jenes Haus zum Verkauf. «Das war für mich ein Zeichen», so Marie, die nun seit zwei Monaten Pilger empfängt. «Nun kann ich dem Jakobsweg und den Men- schen etwas zurückgeben.»
Was der Weg wohl noch für mich bereithält? Diese Zeilen entstehen in Pamplona kurz hinter der spanisch-französischen Grenze. 800 Kilometer liegen noch vor mir, durchs Weinland Rioja, der Hochebene Meseta, in der es keinen Schatten gibt, und den saftig- grünen Hügeln Galiciens. Vielleicht ist der heilige Jakob ja so nett und schenkt mir ab und an einen schönen Weitblick. Denn die Pyrenäen hatten nicht die Güte, sich aus den Wolken herauszuschälen. Ich muss also noch mal vorbeikommen. Bestimmt im Jahr 2027, dem nächsten heiligen Jahr.