Ursprünglich ging es den Pilgern um die Nähe zu den Reliquien des Heiligen Jakob. Aber liegen wirklich seine Knochen in der Kathedrale von Santiago? Oder ist die Story eine Fake News?

Um das Jahr 824 entdeckten der Eremit Pelayo und der Bischof Theodemir aus Iria Flavia die Überreste des Apostels Jakobus des Älteren – freilich «unterstütz» durch göttliche Zeichen und Visionen (siehe mein Text zur Geschichte des Jakobsweges). 

Auch wenn es immer wieder kritische Stimmen gegeben hat: Seit nunmehr 1200 Jahren ist die katholische Welt von der Echtheit der Apostel-Reliquien überzeugt. Die letzte päpstliche Bestätigung fand gar im Jahr 1879 statt. 300 Jahre zuvor Versteckten man die Reliquien aus Angst, der englische Pirat Francis Drake würde die Stadt überfallen. Das Versteck geriet in Vergessenheit und erst im 19. Jahrhundert wurden die Überreste wiederentdeckt. Papst Leo XIII bestätigte daraufhin erneut deren Echtheit. 

Aber wie glaubwürdig ist eine Bestattung Jakobus des Älteren, einen der zwölf Jünger Jesu, im fernen Galicien? 

Jakobus starb in Jerusalem

In der Apostelgeschichte im Neuen Testament (Apg 12.2) wird berichtet, wie Jakobus im Jahr 43 in Jerusalem enthauptet wurde – 4000 Kilometer weiter östlich. 

Das freilich brachte die Geistlichkeit in Santiago in Erklärungsnot. Aber die Galicier waren schon immer gute Geschichtenerzähler: Bald schon wurde die Legende verbreitet, die übrigen Apostel hätten in der Stadt Jaffa den Leichnam in ein Boot geladen, das durch Engelshand bis an die Küste Galiciens gesteuert wurde. Nach etwas Tumult mit den lokalen Herrschern wurde schliesslich der Leichnam im heutigen Santiago beigesetzt.

Warum so weit von seinem Wohnort entfernt? Weil Jakobus nach dem Tod Jesu auf der Iberischen Halbinsel missioniert haben soll und es einem Apostel gebühre, in seinem Missionsgebiet bestattet zu werden – auch das eine Legende, die erst im 8. Jahrhundert aufkam.

Die Geschichte der wundersamen «Translatio», die in Santiago übrigens am 30. Dezember gefeiert wird, brachte den Reformator Martin Luther im 16. Jahrhundert schliesslich zu der Aussage:

Wer weiß, ob dort nicht nur ein toter Hund begraben ist? Oder ein totes Pferd?

Luther war nie um einen guten Spruch verlegen – dass es sich bei den Knochen um menschliche Überreste handelt, davon kann man allerdings ausgehen (auch wenn keine wissenschaftlichen Untersuchungen an den Reliquien erlaubt werden). 

Die Stadt Santiago entstand auf einem römischen Gräberfeld

Historischer Fakt ist, dass es sich bei der Krypta unter dem Hochaltar in der Kathedrale von Santiago um die Überreste eines römischen Mausoleums handelt. Der Ort, an dem sich die Stadt Santiago entwickelte, wurde nachweislich in römischer Zeit als Gräberfeld benutzt. Daher stammt wohl auch der Zusatz «Compostela» von lateinische «compono», beisetzen. (Galicien war Teil der römischen Provinz Gallaecia, woraus sich der heutige Name entwickelte.)

Alles deutet also darauf hin, dass die Gebeine im silbernen Reliquiar einem reichen Römer gehörten. Nun mag man einwenden: Da Jakobus in der Provinz Gallaecia begraben wurde, verwunderte es kaum, dass sein Mausoleum einem römischen Bauwerk ähnelt. 

Stimmt! Bleibt nur die erklärungsbedürftige Überfahrt des Leichnams in einem Boot durch das gesamte Mittelmeer – aber Wunder gibt es immer wieder, wie schon Katja Epstein zu singen wusste. 

Für alle, die durch diese Erklärung eventuell enttäuscht sind:

Die Pilgerwanderungen auf den verschiedenen Jakobsweg gehören für mich zu den intensivsten und glücklichsten Momenten meines Lebens. Das Reliquiar in der Kathedrale von Santiago ist für das Erlebnis völlig nebensächlich. Viele meiner Pilgerfreunde haben den Schrein gar nicht erst besucht. Aufbrechen, sich auf das Ungewisse einlassen: Darum geht es. 


Bibliographie

Die folgenden Bücher geben einen vertieften Einblick in die Hintergründe des Jakobsweges.

Herbers, Klaus: Jakobsweg. Geschichte und Kultur einer Pilgerfahrt, C.H. Beck, München 2006.

Herbers, Klaus: Der Jakobsweg. Ein Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert, Reclam, Stuttgart 2008.

Marten, Bettina: Der spanische Jakobsweg. Ein Kunst- und Kulturführer, Reclam, Stuttgart 2011.

Plötz, Robert (Hrsg): Europäische Wege der Santiago-Pilgerfahrt, Jakobsweg-Studien Band 2, Gunter Narr, Tübingen 1993.

von Saucken, Paolo Caucci (Hrsg): Pilgerwege. Santiago de Compostela, Pattloch, Augsburg 2005

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